Interview: Softwareentwicklung bei Freedom Scientific
Haben Sie sich schon mal gefragt, wie eigentlich die Softwareentwicklung für die Fusion Suite abläuft? Welche Kriterien die Weiterentwicklung der Produkte antreibt? Und wie sichergestellt wird, dass die Wünsche der Anwender Beachtung finden? Zu diesen und weitere Fragen haben wir für diesen Newsletter Matt Ater, Glen Gordon, Eric Damery und Carl Wise aus dem Softwaremanagement Team des Herstellers Vispero, dem Mutterhaus von Freedom Scentific interviewt. Matt Ater ist Vice President of Corporate Business and Software Development und arbeitet daran, Kunden im Bereich der Vispero-Produkt- und Dienstleistungen zu unterstützen. Er besitzt mehr als 25 Jahre Erfahrung im Bereich der Hilfsmittelsoftware. Glen Gordon ist Vice President und spielte seit 1993 eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Screen Readers JAWS. Eric Damery ist Vice President Software Product Management hat über 25 Jahre Erfahrung im Bereich der Hilfsmittelsoftware. Carl Wise ist Director of Software Engineering und seit über 25 Jahren engagiert er sich für die Entwicklung der Softwareprodukte.
Wie lauten die grundlegenden Kriterien für die Weiterentwicklung der Fusion Suite?Carl: Unsere drei Leitkriterien sind: Innovation, Kompatibilität und Stabilität. Technologien entwickeln sich ständig weiter. Innovation bedeutet, dass wir diese Entwicklungen aufmerksam verfolgen, um neue Funktionen zu entwickeln, die unseren Benutzern mehr Autonomie bieten. Ein Beispiel ist die Funktion sprechendes Bild. Neue Technologien ermöglichen es den Inhalt von Bildern zu analysieren und automatisch zu interpretieren. Dadurch ist es möglich geworden Informationen über Bilder zu erhalten, selbst wenn diese keine Beschreibung haben. Seit JAWS 2021 ist diese Funktion zum Interpretieren eines beliebigen Bildes in Deutsch verfügbar. Kompatibilität ist ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Softwareentwicklung. Durch die fortlaufende Weiterentwicklung von Technologien ist es wichtig, die Kompatibilität der Fusion Suite mit der Umgebung sicherzustellen. Wenn neue Versionen von Betriebssystemen, Webbrowsern und anderen gängigen Anwendungen erscheinen, sind JAWS, ZoomText und Fusion vorbereitet. Um dies zu gewährleisten, pflegen wir zudem aktive Geschäftsbeziehungen mit anderen großen Softwareanbietern wie Microsoft, Amazon und Google. Auch die Stabilität der Produkte ist uns wichtig. Weshalb wir erheblich in die Instandhaltung unserer Produkte investieren. Wir reagieren laufend auf Fehlerberichte und lösen Probleme. Während wir innovative Funktionen bereitstellen, legen wir einen hohen Wert auf Leistung, Stabilität und Genauigkeit in unserer Software. Unsere Mission ist es, unsere Kunden in ihrer Autonomie zu unterstützen. Wenn unsere Software unsere Kunden in die Lage versetzt, auf einem Niveau zu arbeiten, das dem anderen Menschen an ihrem Arbeitsplatz entspricht oder übertrifft, dann haben wir unsere Mission erfüllt. Reicht es aus, die Richtlinien für Barrierefreiheit zu berücksichtigen? Welche anderen Aspekte spielen für uns eine entscheidende Rolle?Carl: Software, die barrierefrei ist, ist nicht automatisch nutzerfreundlich. Barrierefreiheit ist häufig nicht genug, um eine Anwendung auch komfortabel nutzen zu können. Eine Anwendung mit vielen Elementen, die alle mit der Tab-Taste erreichbar sind, ist theoretisch für einen Screen Reader Nutzer bedienbar. Das Auffinden einer bestimmten Information erfordert jedoch einen hohen Aufwand, wenn jedes Element einzeln angesprungen wird. Dies macht es mühsam, gewünschte Inhalte aufzufinden. Windows 10 Apps, wie zum Beispiel die Wetter App, unterstützen wir daher zusätzlich mit den Schnellnavigationstasten sowie den Link-, Überschriften- und Formularfeldlisten. Der Nutzer kann die Überschriftenliste verwenden, um direkt die Überschrift der Tagesdetails auszuwählen. Dadurch werden die nicht relevanten Informationen übersprungen. Die erste Version von JAWS und ZoomText wurde vor mehr als 30 Jahren veröffentlicht. Wie haben sich die Software und die Herausforderungen seit damals entwickelt?Eric: Vor Mitte der 1980er-Jahre war ein Bildschirmleser eine sehende Person, die neben einer blinden Person saß und ihr den Bildschirm vorlas. Das war natürlich sehr langsam und wahrscheinlich teuer. Die blinde Person musste der sehenden Person außerdem beibringen, was und wann gelesen werden soll. Und Gott bewahre, wenn die sehende Person ausfiel. Somit wurden Screen Reader wie JAWS, von blinden Menschen entwickelt, die sich nicht aufhalten lassen wollten. Es gab Dutzende von Produkten von vielen Firmen, einschließlich IBM. Ted Henter veröffentlichte JAWS als DOS-Screen Reader erstmals 1988. Henter-Joyce war damals der Firmenname. Glen begann in den Jahren 1993 und 1994 eng mit Ted zusammenzuarbeiten und entwickelte eine Technologie zum Auslesen der Bildschirminformationen in Windows. Glen: In früheren Tagen hatten Unternehmen wie Microsoft kein Team für Barrierefreiheit. Somit konzentrierte sich unsere Hauptaufgabe darauf, die Informationen vom Bildschirm zu sammeln. Das Auslesen der Daten auf diese Weise war nicht vorgesehen, was dies zu einer großen Herausforderung machte. Heute stellt Microsoft die Informationen zur Verfügung und die Herausforderungen und die Bedürfnisse der Nutzer haben sich geändert. Vor einigen Jahren war der Computer das Gerät, mit dem alltägliche Aufgaben erledigt wurden. So erlernten selbst Kinder früh die Bedienung und hatten die nötigen Fähigkeiten, eine komplexe Hausarbeit am Computer zu verfassen. Heutzutage spielen Smartphone und Tablets eine größere Rolle. Viele Menschen wenden sich erst dem Computer zu, wenn sie mit einer Aufgabe konfrontiert werden, für die ein Smartphone oder Tablet nicht ausreicht. Das bedeutet, dass sie mit der Bedienung weniger vertraut sind und diese in Eile erlernen müssen, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen. Unsere Herausforderung besteht darin, dabei zu helfen, die Bedienung der verfügbaren Technologien effizient zu erlernen. Hierfür engagieren wir uns in den sozialen Medien mit Kurztipps, YouTube-Videos und ähnlichen Angeboten. Ziel ist es, die Menschen mit den verschiedenen Funktionen vertraut zu machen. Die meisten dieser Tipps und Schulungen sind nur in Englisch verfügbar. Gibt es Pläne, diese auch in anderen Sprachen anzubieten?Matt: Wir arbeiten daran, unser Webangebot zu erweitern und unter anderem eine Dokumentationsbibliothek in verschiedenen Sprachen einzubinden. Zusätzlich teilen wir unsere Kurztipps mit Händlern wie Papenmeier. Diese können dann übersetzt werden und den Kunden zur Verfügung gestellt werden. Zwei dieser Kurztipps finden Sie in diesem Newsletter. Die Hauptzentrale von Vispero befindet sich in Florida. Werden bei der Weiterentwicklung der Produkte auch Wünsche aus anderen Ländern als der USA berücksichtigt?Carl: Der internationale Markt, insbesondere Deutschland, macht einen großen Teil unseres Geschäfts aus. Zurzeit arbeiten wir mit Feedback-Kanälen, die uns helfen, Probleme unserer Kunden aus verschiedenen Ländern zu identifizieren und diese zu korrigieren. Eines unserer aktuellen Vorhaben ist es, den Austausch zwischen den Nutzern und Vispero auszubauen. Wir wollen das Feedback unserer Anwender schon während der Gestaltung neuer Funktionen stärker miteinbeziehen. Im gleichen Zug wollen wir die Reichweite unserer Forschungsinitiative ausweiten. Um ein möglichst umfassendes Feedback zu erhalten, ist es wichtig, Anwender mit unterschiedlichem technischem Wissensstand, Alter und Herkunft einzubeziehen. Das Jahr 2020 brachte einen weiteren Paradigmenwechsel in der Art und Weise mit sich, wie unser Team zusammenarbeitet. Wir haben ein internationales und vernetztes Team, unsere Entwickler arbeiten unter anderem aus den Niederlanden und Deutschland. Dadurch, dass nun jeder von zu Hause arbeitet, hat sich unsere Teamarbeit verändert. Es macht kaum noch einen Unterschied, ob man in der Nachbarschaft oder von einem anderen Kontinent aus arbeitet. Diesen Wandel nutzen wir, um unseren Blickwinkel bei Produktenscheidungen zu erweitern. In Deutschland haben viele Nutzer eine Braillezeile am Arbeitsplatz und zu Hause. Ist dies auch in den USA der Fall? Und hat dies Auswirkungen auf die Entwicklung?Glen: Die meisten Menschen in den USA haben zu Hause keine Braillezeile. Viele Anwender verwenden sie auf der Arbeit. Jedoch sind Nutzer, die rein auf Sprachausgabe setzen, in der USA in der Überzahl. Glücklicherweise sind diejenigen, die in den USA Braille verwenden, sehr lautstark, wenn es darum geht, ihre Bedürfnisse zu äußern. Das, kombiniert mit den Bedürfnissen der europäischen Braille-Nutzer, stellt sicher, dass die Braille-Ausgabe immer mit einbezogen wird, wenn wir neue Funktionen hinzufügen. Unter anderem aus diesem Grund haben wir stark in die Unterstützung der strukturierten Brailleausgabe investiert. In der strukturierten Brailleausgabe sammelt JAWS Informationen von mehreren Stellen und gibt diese in einer einzigen Zeile wieder. Microsoft stellt in Windows eingebaute Lösungen für die Sprachausgabe und Bildschirmlupen zur Verfügung. Werden diese Lösungen in Zukunft JAWS und ZoomText ersetzen?Carl: Wettbewerb schmiert die Räder der Innovation (Original: „Competition greases the wheels of innovation“). Wir haben langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Barrierefreiheit. Unter der Voraussetzung, dass wir weiterhin innovativ sind, unsere Relevanz beibehalten und hohe interne Standards aufrechterhalten, sollten Sie uns noch viele Jahre lang zum Nutzen blinder und sehbehinderter Nutzer arbeiten sehen. Eric: Das Beste an diesen Lösungen ist, dass sie mehr blinden und sehbehinderten Menschen einen ersten Zugang zu Windows ermöglichen. In den späten 1990er-Jahren führte Microsoft die Sprachausgabe ein. Die Bildschirmlupe folgte kurz darauf, und obwohl sie die Elemente im Laufe der Jahre weiterentwickelt haben, sind sie immer begrenzt geblieben. Solche Lösungen funktionieren vielleicht in einer Notlage, aber man würde sich nur ungern darauf verlassen, wenn es darum geht, eine konkrete Aufgabe zu erledigen. Ein Vergleich ist WordPad und Word: Wenn Sie die Wahl hätten, WordPad oder Word zu verwenden, um Ihre Arbeit zu erledigen, vermute ich, dass Sie sich für Word entscheiden würden - um so komfortabel und produktiv wie möglich zu arbeiten. Der gleiche Unterschied besteht zwischen der Windows Sprachausgabe und JAWS. Welche Entwicklungen können wir von JAWS und ZoomText in Zukunft erwarten?Glen: Neue Technologien ermöglichen es uns, neue Funktionen zu entwickeln. Einige Technologien aus dem Bereich künstliche Intelligenz ermöglichten bereits Funktionen wie sprechendes Bild und den Sprachassistenten. Wir werden auch weiterhin in neue Technologien investieren, die es ermöglichen, den Inhalt des Bildschirms besser zu interpretieren und dem Anwender unterstützen. Weitere Informationen
Vielen Dank der Firma Vispero und deren Mitarbeiter*innen für die gute technische Zusammenarbeit und Unterstützung seit der unserer JAWS Einführung in 1999. Wir danken auch speziell Matt Ater, Glen Gordon, Eric Damery und Carl Wise für die Teilnahme an unserem Interview und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit dem gesamten Vispero Team. Sollten Sie weitere Fragen haben oder eine Beratung zum Thema Fusion oder Hilfsmittelsoftware allgemein wünschen, kontaktieren Sie uns gerne unter Tel.: +49 2304 946 0 |